Eine überfällige Antwort
Als Reaktion auf Putins Krieg gegen die Ukraine rollt eine Welle der Solidarität durch Europa. Neben dem übermächtigen Gefühl des Mitleids und der Ohnmacht in Anbetracht der Bilder der Zerstörung, des Leids stellt sich da still und heimlich ein Gefühl von Stolz. Stolz, teil eines Europas zu sein, dass vereint, offen und hilfsbereit ist für die Massen an Menschen, die ihrem Heimatland entfliehen, weil sie dort um ihre schiere Existenz bangen müssen. Das hat man die letzten Jahre vermisst, dieses Gefühl, und umso mehr will man es annehmen. Statt ständiger Spaltung und Frustration mal stolz auf seine Mitmenschen sein zu können. Auch ein bisschen Stolz auf sich selbst.
Dieses Gefühl macht ein bisschen süchtig, und vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht, denn es anmiert im Besten Fall dazu, noch ein bisschen mehr tun zu wollen, noch mehr teilzuhaben an dieser europäischen Solidarität. Doch lasst uns in diesem Rausch nicht vergessen – wir sind noch immer die Menschen vor dem Krieg, die auch mit Fehlern, Vorurteilen und Ignoranz belastet sind.
Vor Allem sind wir sicherlich einer schweren Doppelmoral schuldig, wenn man die Diskrepanz betrachtet, die wir im Umgang mit Flüchtlingen aus der Ukraine im Vergleich zu Flüchtlingen aus anderen, kriegs- und notgeplagten Ländern an den Tag legen. Mir selbst wäre das vielleicht gar nicht aufgefallen, wenn mich nicht eine Freundin von mir darauf aufmerksam gemacht hätte, und allein das ist im Nachhinein erschreckend. Das selbe Leid, das uns jetzt so nahe geht, übersehen wir seid Jahren. Menschen, die ihre Heimat, ihr Leben, Familienmitglieder verlassen müssen, deren Häuser zerstört sind, die in einem anderen Land Schutz suchen müssen und für die Deutschland noch fremd und neu ist. Wenn von solchen Schicksalen von Ukrainer*Innen berichtet wird, haben wir großes Mitleid, ohne zu realisieren, dass es doch das selbe Leid ist, dass Flüchtlinge aus anderen Ländern mitbringen. Doch ihnen gegenüber hat sich eine gewisse Gefühlskälte entwickelt, das Mitleid ist an vielen Stellen versiegt. Deutschland als Gesellschaft scheint weniger bereitwillig, diesen Menschen Schutz zu bieten.
Da habe ich natürlich auch angefangen, mein eigenes Urteil zu hinterfragen und genauer hingeschaut. Zum einen ist mir aufgefallen, dass es eine Rolle spielt, dass der Konflikt in der Ukraine erst so jung ist. Wenn ich Bilder der zerstörten Häuser sehe, schmerzt mich der Gedanke, dass diese Viertel nur vor ein paar Wochen noch funktionale, heile Lebenswelten waren. Ich habe plötzlich verstanden, dass ich bei Bildern etwa aus Syrien an diese Zerstörung gewohnt bin, so unreflektiert das klingt oder ist, ich habe nie darüber nachgedacht, dass auch dort eine heile Welt mit Häusern, die nicht zerbombt sind und Menschen, die weitgehend unbesorgt ihrem Alltag nachgehen, Normalzustand sein muss. In meiner Gedankenwelt war die plötzliche Zerstörung eines zuvor stabilen Landes anscheinend erschütternder als die andauernde Gewalt in einem Land, dass ich sowieso immer nur mit Krieg verbunden habe. Vielleicht geht es anderen von euch ja auch so, und ihr könnt das mal bei euch selbst reflektieren.
Auf der anderen Seite ist da offensichtlich ein Rassismusproblem. Wenn da Leute leiden, die aussehen wie ich und glauben wie ich und eine ganz ähnliche Kultur haben wie ich dann bin ich natürlich schneller dabei zu denken, das könnte ja ich sein, und da sind sie schon, die Solidarität und das Mitleid. Bei Menschen mit anderer Kultur kommt dieser Gedankengang stockender und die Berührungsängste sind größer. Dass es diesen Unterschied gibt, ist jetzt leider nicht so ganz schnell zu ändern, auch wenn ich denke, dass es langfristig unser Ziel als Gesellschaft sein muss. Wir rühmen uns mit Menschenrechten, Humanismus und Gleichberechtigung, aber dennoch steckt in fast allen von uns da noch die Art, wie wir uns ähnelnden gegenüber Menschen schneller und leichter Empathie empfinden. Das sich einzugestehen ist gar nicht leicht, finde ich. Aber sich selbst dafür jetzt zu schänden, halte ich nicht wirklich für produktiv, weil das im Endeffekt eher dazu führt, Rechtfertigungen und auch Ausreden für das eigene Empfinden zu suchen, ohne dass sich irgendwas im Handeln verändert. Der Knackpunkt liegt da, wo das Gefühl in die Tat umgesetzt wird, denn an der Stelle kann der Verstand dazwischengrätschen. Wenn ich es schon nicht schaffe, intuitiv so viel Mitleid für Flüchtlinge auf dem Mittelmeer aufzubringen wie für diejenigen aus der Ukraine, so kann ich doch mein rationales Denken dafür einsetzen um zu verstehen, dass mein Mitleid und meine Tatkraft allen schutzsuchenden Menschen gleichermaßen gelten sollte. Selbst wenn man es manchmal nicht schafft, das aufgeklärte und humanistische Menschenbild ganz zu fühlen, so sollte man doch danach reflektieren und handeln. Dann kann das Mitleid, was wir gerade so stark empfinden, vielleicht für alle gut sein, indem wir diese Gefühle im Herzen behalten und daran denken, wenn uns das Mitleid für andere Flüchtlinge fehlt. Dieses intensive Erlebnis von „das könnte auch ich sein“ kann vielleicht Brücken schlagen, wenn man mal wieder fühlt, dass Kälte aufkommt gegenüber Menschen aus Ländern, die man nur im Kriegszustand kennt. Am Ende ist es doch so, wir sind alle Menschen, die Leid gleich fühlen, die Glück und Schutz suchen und bekommen sollten, die keine Todesangst ertragen dürften. Das ist nichts neues, das wissen wir alle, wir müssen jetzt nur anfangen, danach zu handeln.